Post Views: 69
Wolfgang Krömer stellt das Buch vor.
Links zum Thema
Autorin/Autor des Beitrags
Wolfgang KrömerModerationen/Beitragstext
Buchempfehlung: „Meine Leben“ von Edmund WhiteHabt ihr auch manchmal das Gefühl, alle in eurer Familie sind bekloppt, pervers oder durchgeknallt? Natürlich wisst ihr auch: Darüber sprechen darf man aber nicht. Einer tut es nun doch: Edmund White, Jahrgang 1940. Nun also schon 81 Jahre alt. Dann kann er sich’s ja leisten, denn fast alle anderen sind schon tot und beschweren sich nicht mehr.
Trotzdem: Das hier ist ein mutiges Buch. Wo andere altersmilde und versöhnlich werden, haut er alles raus, was in seiner Familie und später in seinen Freundeskreisen passiert ist.
Alle kriegen ihr Fett weg. Aber am allerwenigsten schont er sich selbst. Und das ist das eigentlich Erstaunliche und Erhellende an diesem Buch. Die Lesenden erfahren, dass der strahlende Autor, der intelligente Mann mit so viel Lebenserfahrung - genauso ein Getriebener ist wie wir alle.
Zum Beispiel ständig auf der Suche nach Sexabenteuern. Das beginnt schon in seiner Jugend. Als er siebzehn ist, verdient es sich ein bisschen Geld in der Firma seines Vaters. Nun schaut er auf den Treffpunkt der Stricher in seiner Stadt:
“Ich begriff intuitiv, was hier vor sich ging. - Von meinem Vater bekam ich etwas Geld, damit wollte ich einen dieser Jungs kaufen und mit ihm Sex haben. Obwohl ich während des Schuljahrs zum Therapeuten ging, um zum Heterosexuellen zu «reifen», änderte diese Behandlung nicht das Geringste am Oberkommando meiner sexuellen Begierden. Ich stand unter der Herrschaft einer Sucht, für die Genuss keine große Rolle spielte. Mit anderen Worten: Ich stellte mir nicht vor, dass ein Mann einfach nur meinen nackten Körper streichelte, mich küsste oder mich in sich eindringen ließ. Alles, was ich wollte, war, einen Kerl zu kaufen, seinen erigierten Penis zu berühren und ihn zum Abspritzen zu bringen, damit ich mir selbst sagen konnte, ich sei mit einem anderen Mann zusammen gewesen.”
Ein weiteres bestimmendes Moment seiner Jugend sind seine Psychologen, die er Seelenklempner nennt. Die erste in seinem Leben ist seine Mutter. Nach der Scheidung arbeitet sie im öffentlichen Dienst von Illinois, wo sie Intelligenztests an Grundschülern durchführt. Als Mutter ist sie häufig aufbrausend, als Psychologin aber perfekt:
“Sie sprach mit gedämpfter Stimme und dem liebenswürdigen Tonfall einer Märchenerzählerin – «Also, Eddie, erzähl mir bitte, welche Bilder du in diesem Tintenfleck erkennen kannst.» Auch mich veränderte die Testsituation, sie verängstigte mich, denn ein psychologischer Test konnte wie eine Röntgenaufnahme oder Blutabnahme eine geheime Krankheit offenbaren: Feindseligkeit, Perversion, Wahnsinn oder, und das war das Schlimmste, niedrige Intelligenz. … Danach zog sie sich für einige Stunden zurück, um ihr dickes, dunkelblau eingebundenes Deutungshandbuch mit dem tiefroten Etikett zu Rate zu ziehen. … Meine Mutter war geradezu begeistert, als sie herausfand, dass ich eine «Borderline-Störung» mit «starken schizophrenen Tendenzen» habe. Meine Unfähigkeit, in den Tintenklecksen irgendwelche menschlichen Formen zu sehen, war anscheinend der aussagekräftigste Hinweis auf meine Geisteskrankheit. Geisteskrankheit. Ich sah immer nur Juwelen und Grabsteine.”
Zu seiner Mutter hat er immerhin ein ambivalentes Verhältnis, sein Vater und sein Großvater aber sind Rassisten, und auch mit ihnen muss er irgendwie klarkommen. - Und er schafft auch das.
Der Buchtitel ist Programm: “Meine Leben” heißt er. In zehn Kapiteln erfahren wir, was Edmund White am wichtigsten ist: Zum Beispiel: Meine Mutter, meine Stricher, mein Genet, meine Freunde und auch mein Europa.
In “Mein Europa” begegnet uns auch der Starphilosoph Michel Foucault. Mit ihm trifft er sich in einem Restaurant.Â
“Während des Essens bedauerte ich, dass ich seine Theorien nicht mit ihm diskutieren konnte. Erst später erfuhr ich, dass er solche Gespräche außerhalb der Universität nicht mochte. Ich fragte ihn, wie er seine große Intelligenz erworben habe. Er lächelte und sagte: «Ich war nicht immer so intelligent. Als Kind war ich hyperaktiv und ein schlechter Schüler. Mein Vater war ganz verzweifelt. Er war ein mittelständischer Arzt in der Provinz. Er schickte mich aufs Internat, wo ich mich in einen Jungen verliebte, der ein noch schlechterer Schüler war als ich. Ich wurde fleißig, damit ich für ihn die Hausaufgaben machen konnte – so fing ich an, Fuß zu fassen.”
Ihr merkt, schon wieder ein von Liebe und Sex Getriebener. So wie wir alle. Ich verspreche, ist gibt noch viele solche erhellenden Erlebnisse in Edmund Whites Buch “Meine Leben”. Auch für euer Leben. - Meine Leben von Edmund White ist jetzt im Albino Verlag erschienen, rund 520 Seiten für 28 Euro. Die Übersetzung ist von Joachim Bartholomae.